Die Entdeckung

2. Juni 1972. Drei junge Mitglieder der DKP aus Mörfelden/Walldorf, besuchen die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar, DDR. Hier befand sich eines der berüchtigsten Konzentrationslager Hitlerdeutschlands. In ihrem Bericht hieß es damals: "Fassungslos und erschüttert gehen die Mitglieder unserer Gruppe durch die Räume der Gedenkstätte, wo in Schaukästen und Vitrinen tausende Dokumente des Grauens ausgestellt sind." logo In einem der Räume hängt eine große Übersichtskarte, auf der alle Konzentrationslager und Außenlager des 3. Reiches eingezeichnet sind. Die Karte ist übersät mit Punkten, Kreisen und Dreiecken. Wir lesen viele bekannte Namen: Dachau, Flossenbürg, Theresienstadt und - Walldorf. Ja, ganz deutlich ist da der Name Walldorf eingetragen, und daneben ist ein Dreieck - ein Außenlager. Wir blicken uns gegenseitig an: Ja wenn bei uns ein KZ war, das müßte man doch wissen? Vielleicht ist es ein Irrtum - es gibt ja noch Walldorf/Baden. Genaues Kartenstudium - kein Zweifel: es ist unser Walldorf, Walldorf in Hessen, und hier muß ein Lager gewesen sein. Nachdenklich verlassen wir die Gedenkstätte. Wenn wir nach Hause kommen, werden wir das nachprüfen. Wir werden die Ortschronik lesen und ältere Bürger fragen. Irgendwo wird es ja noch Unterlagen geben, irgendjemand wird sich erinnern. Ein KZ, von dem keiner was weiß - das gibt’s doch nicht. So dachten wir damals. Aber es sollte noch 6 Jahre dauern, bis die ganze Wahrheit über das KZ-Außenlager Walldorf ans Licht kam.

logo Heute wissen wir:
Vom 22. August bis zum 24. November 1944 wurden 1700 ungarischen Jüdinnen im Alter zwischen 14 und 46 Jahren als Zwangsarbeiterinnen beim Ausbau des Frankfurter Flughafens eingesetzt. Wegen dem angeblich kriegsentscheidenden Bauprojekt, der Rollbahn für ein neu entwickeltes Flugzeug, wurden die Mädchen und Frauen zur Zwangsarbeit geholt. Am 22. August 1944 sind sie hier in Walldorf angekommen.Im Frühsommer 1944 waren sie aus ungarischen Internierungslagern nach Auschwitz deportiert und dort für den Arbeitseinsatz selektiert worden. "Die Selektion entschied über Leben und Tod. Kam man bei der Selektion auf die andere Seite, so bedeutete das: Gaskammer. Aber auch wenn man zur Arbeit ausgemustert wurde, war es damit noch keineswegs gewiss, dass man gerettet war. Es hing viel davon ab, in welches Lager man kam."
Quelle : Miriam H., zitiert in: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung ...". Ein Begleitheft zum historischen Lehrpfad am ehemaligen KZ-Außenlager Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf. Mörfelden-Walldorf 2000, S. 25)

Von Auschwitz wurden die Frauen in das hessische KZ-Außenlager Walldorf verbracht
"Wir waren in Güterwaggons eingesperrt und dort, an einem Seitenplatz (Nebengleis) hat man uns ausgeladen. Auf der Rampe war groß aufgeschrieben Frankfurt am Main. Von dort sind wir weit, weit gegangen, wie weit genau weiß ich nicht mehr, nur, dass es sehr schwer zu gehen war. Wir waren so schwach nach drei Tagen ohne Wasser, ohne Essen, ohne alles."
Quelle: Aus einem Interview, das Herbert J. Oswald 1978 mit Helena Halperin führte. Abgedruckt in: Nichts und niemand wird vergessen. Zur Geschichte des KZ-Außenlagers Natzweiler-Struthof in Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf, o.O. 1996, S.14

Die Frauen wurden zum Arbeitseinsatz am Flughafen Frankfurt eingeteilt. Die Sommerkleider, mit denen sie in Frankfurt ankamen, wurden während der gesamten Zeit nicht durch angemessene Bekleidung ersetzt. "Vom Flughafen haben wir leere Zementsäcke mitgenommen. Ich war Schneiderin und habe für viele etwas daraus gemacht. Der Zementsack war drei-, viermal doppelt; oben habe ich für den Kopf ausgeschnitten und hier und hier ... Damit haben wir aus dem Zementsack eine Art Kleid gemacht; das haben wir unter unserem Kleid getragen. Das war ein guter Schutz gegen den Wind."
Quelle: Heléne B., zitiert in: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Ein Begleitheft zum Historischen Lehrpfad am ehemaligen KZ-Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf, o.O. 2000, S. 37

Über die Arbeit und das Verhalten von Aufsehern im Lager Walldorf berichteten Überlebende 1978 in Interviews und Briefen
"Nach unserer Ankunft haben wir zuerst auf einem militärischen Flugplatz das Gelände mit Grastafeln auslegen müssen, dann arbeiteten wir beim Ausladen von Waggons, Baumfällen und Aufstapeln. Die langen Baumstämme mussten wir auf eigenen Schultern große Entfernungen tragen - letzteres geschah, wenn das Wetter schlecht war und die Pferde geschont wurden. ... Während der Arbeit war das sogenannte "Klavierspielen" in "Mode". Das bestand daraus, dass dem sich nach schwerer Last bückenden Gefangenen mit einem Stock auf den gestrafften Rücken gehauen wurde. Besonders grausam machte das ein 20jähriger SS (Wachmann) mit Genuss."
Quelle: Zsuzsana Farkas in einem Brief von 1978. Abgedruckt in: Nichts und niemand wird vergessen. Zur Geschichte des KZ-Außenlagers Natzweiler-Struthof in Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf, o.O. 1996, S.19f.

"Wir haben im Wald gearbeitet, es war Winter und eine Menge Schnee. Ich hatte keine guten Schuhe. Niemand von uns hatte welche. Wir gingen zurück zum Lager. Ich hatte Holzschuhe an, der Schnee blieb daran hängen, so dass es für mich schwer war zu gehen. ... Meine Füße begannen zu bluten und entzündeten sich. Es war Routine, dass wir uns bei unserer Rückkehr im Lager stets als erstes aufstellen mussten, um gezählt zu werden. Die Deutschen erwarteten, dass wir aufrecht stehen. Mit den Entzündungen an meinen Füßen aber war es schwer überhaupt zu stehen. Die Wachen zogen mich aus der Reihe heraus und warfen mich zu Boden. Sie schlugen mich und gaben mir Fußtritte. Ich war dadurch schwer verletzt, - physisch und psychisch. Ich hoffte, dass ich sterbe würde. Das ist nur eine Episode aus dem Leben im Lager Walldorf nahe Frankfurt am Main."
Quelle: Hanna S.: Zitiert in: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung ...". Ein Begleitheft zum historischen Lehrpfad am ehemaligen KZ-Außenlager Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf. Mörfelden-Walldorf 2000, S.50

Der ehemalige Luftwaffenhelfer Karl W. (geb. 1928) erinnert sich: "Die Frauen hatten in der unfreundlichen Jahreszeit dünne Sommerkleider an, die Haare ganz kurz, Zementsäcke umgehängt und die Beine mit Wellpappe umwickelt, mit einer Kordel festgezogen - ein Bild des Elends. Ich habe gesehen, dass sie Erdarbeiten an der Rollbahn verrichtet haben. Ich war entsetzt."
Quelle: Karl W., zitiert in: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". Ein Begleitheft zum Historischen Lehrpfad am ehemaligen KZ-Walldorf. Hrsg. v. Magistrat der Stadt Mörfelden-Walldorf, o.O. 2000, S.47

Die unmenschliche Behandlung, die körperliche Schwerarbeit, die die Frauen bei völlig unzureichender Ernährung ca. drei Monate lang leisten mussten, führten dazu, dass im November die meisten von ihnen nicht mehr arbeitsfähig waren. Am 24. November 1944 wurde das Lager in Walldorf aufgelöst und die überlebenden Frauen - ca. 1650 - ins KZ Ravensbrück überstellt. Die meisten von ihnen erlebten das Kriegsende nicht mehr; sie wurden ermordet, starben infolge der Zustände in Ravensbrück oder auf Todesmärschen.

Die Entdeckung und die Jahre danach
In den Jahren nach der "Entdeckung" wurde in Mörfelden-Walldorf, vor allem durch die Leiterin des Heimatmuseums Cornelia Rühlig viel zur Aufarbeitung geleistet. Es gibt einen Gedenkpfad, einen Spielfilm in mehreren Sprachen und viele neue Broschüren. Schülerinnen und Schüler der Bertha-von-Suttner-Schule arbeiten am Thema. Sie demonstrierten bei der Firma Züblin setzten sich für eine Entschädigungzahlung ein. Am 15. Oktober 2000 wurde der "Historischen Lehrpfad", im Beisein von überlebenden Frauen aus dem ehemaligen Lager eröffnet. Es gibt die Margit-Horváth-Stiftung. Ein "International work and study camp" macht Ausgrabungen, lernt und trägt es weiter. Darüber freuen wir uns. Wir haben allerdings auch nicht vergessen, wie alles anfing. Wie wir als "Nestbeschmutzer" diffamiert wurden,

Von einem KZ-Lager wusste damals, in den 70er Jahren, anscheinend niemand etwas. Nur selten erhielten wir vage Hinweise, dass da mal irgendetwas gewesen sei. Die Gründe dafür waren vielfältig. Vieles hatte man verdrängt. Man hatte nach 1945 auch andere Sorgen. Der deutsche Faschismus hatte die Kriegsfackel in die Welt geworfen, aber die Flammen schlugen zurück. Viele Menschen hatten noch Angehörige in Kriegsgefangenschaft, viele Familien hatten nicht satt zu essen. Außerdem, das Lagergelände lag außerhalb des Walldorfer Gebietes in der Gemarkung der Gemeinde Zeppelinheim, heute gehört es zu Frankfurt. Die Bewohner Walldorfs hielten sich zu Kriegszeiten fern vom Flughafengelände, weil es dort oft Bombardierungen gab. Vereinzelt jedoch gab es durchaus Personen, die vom Lager und den dort inhaftierten Menschen Kenntnis hatten: Bauern die im Wald mit ihren Pferden Bäume gezogen hatten, oder Wehrmachtsangehörige die am Flughafen stationiert waren.

Die Mitglieder der DKP Mörfelden und Walldorf Alfred J. Arndt, Herbert J. Oswald und Gerd Schulmeyer recherchierten jahrelang, machten Interviews, schrieben ungezählte Briefe, trugen Fakten zusammen. Die DKP vor Ort druckte die ersten beiden Broschüren machte eine Ausstellung und hatte die Überlebende Susanne Farkas aus Ungarn im Jahre 1980 eingeladen. logo Herbert J. Oswald und Rudi Hechler demonstrierten vor dem Verwaltungsgebäude der Fa. Züblin in Stuttgart für eine Entschädigungszahlung. Der Antrag der DKP im Stadtparlament einen Gedenkstein am Außenlager zu errichten, wurde gegen heftigen Widerstand vor allem aus der CDU, durchgesetzt. Am Samstag, dem 1. März 1980 wurde der Gedenkstein für die Opfer der ehemaligen Außenstelle des Konzentrationslagers Natzweiler auf dem früheren Lagergelände offiziell seiner Bestimmung übergeben. Die CDU-Fraktion der Stadtverordnetenversammlung blieb der feierlichen Enthüllung fern, ihr Verhalten wurde nicht nur im Presseecho mit Unverständnis zur Kenntnis genommen.

Die Arbeit geht weiter. Nichts soll vergessen sein.

Wir bedanken uns bei allen die geholfen haben, dass es nicht bei der "Entdeckung des Jahres 1972" blieb. Die Widerstandskämpferin Zsuzsana Farkás, die schrieb am Ende ihrer schmerzhaften Erinnerungen: "Ich schätze die Arbeit, die ihr Kommunisten und Antifaschisten verrichtet äußerst. Nicht darum, weil ihr die alten Wunden bloßlegen wollt und heilen, was nicht zu heilen ist, sondern weil ihr dafür kämpft, dass die Jugend, die neue Generation, nicht von solchen Schrecken heimgesucht werden kann."